Vorabdruck: Egon Krenz: „Verlust und Erwartung: Erinnerungen“

Mit dem dritten Band seiner Memoiren schließt Egon Krenz seine Autobiografie ab. Ein Vorabdruck.
Mit dem dritten Band seiner Memoiren schließt Egon Krenz seine Autobiografie ab. Darin nimmt er den Herbst 1989 in den Blick, als er Staats- und Parteichef wurde, seine Vertreibung aus dem Amt und der Wohnung, den Verlust seines Landes, schließlich die juristischen Auseinandersetzungen, einschließlich seiner Haft. Als die Republik vor 75 Jahren gegründet wurde, war er zwölf. Er hat sie nicht nur erlebt, sondern aktiv gestaltet. Als sie vor 35 Jahren unterging, verlor er mehr als nur seine Arbeit. Er reflektiert diese auch für andere Ostdeutsche sehr komplizierte Zeit. Es folgt ein Vorabdruck aus dem Sachbuch, das sich mit China beschäftigt.
Am Montag, dem 26. Mai 2025, präsentiert Egon Krenz seine Autobiografie im Gespräch mit Holger Friedrich, Verleger der Berliner Zeitung, im Babylon-Kino in Berlin. Tickets gibt es hier. Ein Livestream der Veranstaltung wird es auf der Homepage der Berliner Zeitung geben.
Zu den Politbüro-Mitgliedern, die sich trotz der Krise in den Urlaub verdrückt hatten, gehörte auch Günter Schabowski. Er war mit einem Regierungsflieger nach China gereist. Dort hatte es im Juni gewaltsame Auseinandersetzungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens gegeben, die nicht nur die Volksrepublik erschüttert hatten. Im Westen nahm man diese Ereignisse als Steilvorlage. Ohne Kenntnis der Hintergründe und Zusammenhänge für diese Zusammenstöße fiel die antichinesische Propaganda auf fruchtbaren Boden.

Schabowski war aber nicht nach Beijing geflogen, um sich darüber zu informieren. Allerdings hatte er während des Urlaubs auch ein Gespräch mit Jiang Zemin geführt, seit Kurzem Generalsekretär der KP Chinas. Jiang war zuvor Erster der Partei in Shanghai und damit dem Parteichef der DDR-Hauptstadt, also Schabowski, quasi ebenbürtig gewesen. Vielleicht kannte man sich daher. In einem Blitztelegramm am 14. Juli informierte Schabowski Honecker über diese Begegnung. Vor allem ein Satz blieb in meiner Erinnerung haften. „Nach Einschätzung der chinesischen Genossen wäre es zu den Ereignissen im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht gekommen“, so Schabowski, „wenn die Parteiführung einig gewesen und eine klare Einschätzung gehabt hätte“.War das selbstkritisch gemeint?
Anders konnte ich das nicht verstehen.
Allerdings blieben Schabowskis Reise und seine Hinweise nicht folgenlos. Zum einen schlug er im Politbüro vor, dass ich die Delegation leiten sollte, die zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik nach Beijing reisen würde. Zum anderen lieferte das Thema Anlass für ein Schreiben der Ständigen Vertretung in Berlin an das Bundeskanzleramt in Bonn. Mit ausdrücklichem Hinweis auf meine Saarbrücker Gespräche Mitte Juni wurde ich in dieser vertraulichen Regierungsinformation zum Hardliner und Scharfmacher gemacht. „Seine durch nichts gemilderte Verteidigung der Massaker in Peking bei seinem Besuch in Saarbrücken zeigen seine Entschlossenheit, im Ernstfall alle staatlichen Machtmittel einzusetzen.“
Diese Behauptung war nicht nur erfunden und tendenziös, sondern falsch. Sie sickerte aber in die Medien, fand nachhaltig Verbreitung und sollte noch Jahre später sogar zu Gerichtsverfahren führen. Tatsächlich hatte ich in Saarbrücken auf einschlägige Fragen von Journalisten erklärt, dass man sich bei der Beurteilung von Ereignissen besser „an die amtlichen Mitteilungen halten“ sollte und nicht an Meldungen, „die auf Gerüchten, Verfälschungen und Vermutungen beruhen“. In den Erklärungen der chinesischen Partei- und Staatsführung werde „klar und deutlich festgestellt, dass die friedlichen Demonstrationen der Studenten zu einem konterrevolutionären Umsturz in der Volksrepublik China ausgenutzt werden sollten“, hatte ich damals auf der zweitägigen Konferenz erklärt, an der auch Generaloberst Fritz Streletz in Uniform teilgenommen hatte. […] Wolfgang Herger, andere in Berlin verbliebene Genossen der Führung und ich kannten zwar die Lage – waren aber als Parteiführung handlungsunfähig. Und zweifellos zogen nicht alle am gleichen Strick. Die meisten Mitglieder des Politbüros und der Regierung befanden sich unverändert in der Sommerpause, und die Nummer Eins stand nicht auf der Kommandobrücke. Und selbst wenn alle präsent gewesen wären – von Einigkeit im Politbüro konnte keine Rede sein. Vor allem aber: Die Zentral- und Schlüsselfigur, die alles in letzter Instanz persönlich entschied, war gesundheitlich geschwächt und nahm augenscheinlich den Ernst der Lage nicht wahr.
„Mach keine Panik!“, sagte Honecker am TelefonHerger und ich bereiteten die uns zugehenden Einschätzungen auf. Wenn Honecker aus dem Urlaub zurückkehrte, musste im Politbüro unbedingt gründlich und kritisch darüber gesprochen werden. Ich sagte dies Erich Honecker am Telefon.

Er antwortete: „Mach keine Panik!“Die starke Fixierung allein auf den Generalsekretär war schon in normalen Zeiten hemmend. Jetzt aber erwies sich dieses strukturelle Problem als existenziell für das Land. Männer machten eben doch Geschichte. So oder so.Ich verzweifelte geradezu: Was musste eigentlich noch geschehen, damit die Führung aufwachte und wirklich kollektiv und einig handelte?
Ich war mir sicher: Ich machte keine Panik. […]
Meine – vorerst – letzte Reise in die Volksrepublik China erfolgte im Sommer 2019, vor der Pandemie. Der Verlag des chinesischen Außenministeriums hatte mich zur Vorstellung meines Buches eingeladen. „China, wie ich es sehe“ war im Frühjahr 2018 in der edition ost erschienen, nunmehr kam also die chinesische Ausgabe. Die Übersetzung hatte mein Freund Jianzheng Wang besorgt. Bis 2013 war er als Militärattaché an der Botschaft in Berlin tätig gewesen. Der Verlag präsentierte mein Buch im Diaoyutai State Guesthouse. An einen Zufall mochte ich nicht glauben: In eben jenem Gästehaus der Regierung war ich vor dreißig Jahren untergebracht worden. Ich überbrachte die Glückwünsche der DDR zum 40. Jahrestag der Volksrepublik. Damals war ich auch mit dem Staatslenker Deng Xiaoping, dem „Überragenden Führer“, zusammengetroffen und mit Jiang Zemin, dem ersten Mann in der Partei. Der Generalsekretär hatte mich in seinem Arbeitszimmer mit einem Zitat aus Goethes „Faust“ auf Deutsch willkommen geheißen: „Das ist der Weisheit letzter Schluss: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.“

Unter den über hundert Gästen der Buchpräsentation waren auch etliche im Ministerrang, Vertreter aus der Parteiführung, Diplomaten und Wissenschaftler. Ziemlich großer Bahnhof für einen Politikrentner aus Deutschland, wie ich fand. Gleich vier prominente Redner würdigten, jeder auf seine Weise, mein Buch, einer nannte es ein „wertvolles Geschenk eines bewährten europäischen Sozialisten zum 70. Geburtstag der Volksrepublik China“. In diesem Urteil waren erkennbar Vokabeln versteckt, die nicht nur mich und meinen Begleiter Siegfried Lorenz aufmerken ließen. Offenkundig hatte die Sicht Chinas auf den Osten Deutschlands und dessen Vergangenheit einige neue Akzentuierungen erfahren. Mei Zhaorong, Botschafter in der BRD von 1988 bis 1997 und profunder Deutschlandkenner, meinte zum Inhalt des Buches: „[…] Das Verschwinden des sowjetischen Sozialismusmodells, so Krenz, bedeute nicht den Untergang des Weltsozialismus. Die Erfolge Chinas verleihen der Idee des Sozialismus neue Impulse, die ganze Welt richtet heute ihren Blick auf China.“
Die großen Medienhäuser Chinas hatten ihre Vertreter geschickt. Sie wollten von mir wissen, worin ich die Gründe für Chinas erfolgreiche Politik sehe und welchen Platz ich der Volksrepublik in der Welt zuweise. Das war ich bei jeder Reise gefragt worden. Die Chinesen interessierte, wie ihr Land von außen wahrgenommen wurde. Nicht um gelobt zu werden, sondern um zu erfahren, was sie richtig und was sie eventuell falsch machten, um es zu korrigieren. Nationale und kulturelle Überheblichkeit, wie wir sie in Europa erleben, kennen sie nicht: Das widerspricht dem chinesischen Charakter.
Nicht nur aus Freundlichkeit, sondern weil ich davon überzeugt war, sprach ich in ihre Mikrofone: „Mir imponiert, mit welcher Ruhe und Sachlichkeit die chinesische Führung unter Leitung von Xi Jinping agiert. Die Botschaft, die ich hier höre, heißt: China lässt sich nicht provozieren. Es will Dialog statt Konfrontation. Es bedroht kein Land. Es wird niemals nach Hegemonie und Expansion streben, immer aber seine legitimen Interessen verteidigen. Und das ist gut so!“

Die Journalisten fragten auch nach Persönlichem. Was mich bewege, was ich in China schon gesehen habe. Daraufhin erzählte ich von einer Begegnung im vergangenen Jahr in Shanghai. Ich hatte dort Veteranen der Volksbefreiungsarmee bei einer Chorprobe getroffen: würdige Greise, betagte Frauen […]. Sie kämen regelmäßig zusammen, um gemeinsam zu singen, erzählten sie mir. Und dann stimmten sie „Freude, schöner Götterfunken“ an. Schillers Text auf chinesisch zu Beethovens Musik, die Europahymne. Das hatte mich sehr berührt. Wie klein doch die Erde war, und wie nah sich Menschen sein konnten. Wie einfältig und dumm hingegen waren doch jene, die das ignorierten und aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen auf Konfrontation setzten.
[…] Wir trafen – zum Teil bereits emeritierte – Professoren, die in den fünfziger Jahren in der DDR studiert hatten und die sich gern an diese Zeit erinnerten. Professor Wang Xijing, einst in Beijing ein Kommilitone von Rolf Berthold, des unlängst verstorbenen letzten Botschafter der DDR in der VR China, berichtete über ihre gemeinsame Zeit an der Universität in Beijing. Sie hätten sich damals ein kleines Internatszimmer geteilt.
„Wir waren bettelarm, aber wir hatten Ideale“, so Wang. „Wir haben Kulturrevolution, Hunger und große Sprünge hinter uns gelassen, sind gemeinsam durch Höhen und Tiefen gegangen und haben jetzt das China der neuen Zeit. Das ist wie eine andere Welt.“ Wohl wahr. […]
Der Mainstream hierzulande möchte gern, dass China wie der Westen wird. Man akzeptiert nicht, dass es die chinesische Nation selbstbewusst ablehnt, wie der Westen zu werden. […]
Als ich mit Siegfried Lorenz nach drei Wochen China ins Flugzeug stieg und meinen Platz gefunden hatte, musterte mich jemand. Wieder und wieder. Ich vermutete einen Geschäftsmann aus dem Westen, der sich nicht traute, mich anzusprechen. Erst als wir in Berlin den Flieger verließen, wagte er es. „Was macht ein Egon Krenz in China?“Aha, dritte Person, ein Wessi. Ich fand also meine Vermutung bestätigt.„Freunde besuchen“, antwortete ich.„Ach ja“, meinte er ironisch, „ich hatte ja schon vergessen, dass die Kommunistische Partei Chinas einst die Bruderpartei Ihrer SED war.“ Er machte eine Pause und setzte seine Pointe: „Aber Ihre Bruderpartei ist erfolgreicher als es die Ihre war.“Ich widersprach nicht. Wo er recht hatte, hatte er recht.
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Berliner-zeitung